Herr Melzer, Sie sind offizieller UN-Sonderberichterstatter über Folter. Gibt es für Sie nicht dringendere Fälle von Folter in Schurkenstaaten anzuprangern als den einen Gefangenen Julian Assange im Rechtsstaat Großbritannien?
Meine Arbeit ist natürlich uferlos. Ich bin für alle 190 Uno-Staaten verantwortlich. Wir sprechen wahrscheinlich von Millionen Folteropfern. Ich kann leider nicht alle Folteropfer der Welt abdecken. Ich habe nur zwei Mitarbeiterinnen. Um sich in der Breite mit Folteropfern zu beschäftigen, gibt es zum Glück noch unzählige andere Organisationen. Aber die Stärke meines Mandates ist die große Sichtbarkeit bei gleichzeitiger völliger Unabhängigkeit. So habe ich mir ganz klar von Anfang an gesagt, ich werde mein Mandat dazu nutzen, Dinge ans Licht zu ziehen, die sonst unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung bleiben würden.
Es ist anzunehmen, dass Ihr Wort als UN-Sonderberichterstatter über Folter Gewicht hat. Gewöhnlich treffen Sie mit Außenministern oder anderen Regierungsvertretern zusammen. Was war im Fall Assange anders?
Zuerst wollte ich mich überhaupt nicht darauf einlassen. Ich war auch beeinflusst von diesem Narrativ, das jahrelang über Assange verbreitet wurde: der Hacker, der Vergewaltiger, und so weiter. Aber als ich anfing, an der Oberfläche zu kratzen, merkte ich sofort, dass da vieles nicht stimmt. Es geht ja in diesem Falle nicht nur um Assange als Einzelperson, sondern darum, dass demokratische Rechtsstaaten wie Schweden, Großbritannien oder die USA ihre Institutionen ganz gezielt missbrauchen, um jemanden politisch zu verfolgen. Das macht diesen Fall so wichtig.
Sie schreiben, dass zum ersten Mal nach zwanzig Jahren Arbeit auf diesem Gebiet Ihr „Systemvertrauen“ in westliche Institutionen erschüttert wurde.
Genau. Auch Rechtsstaaten machen Fehler, bis hin zu Kriegsverbrechen, aber man kann sich normalerweise auf die Institutionen verlassen, das wieder zu korrigieren. Das war in diesem Fall nicht so.
Sie erheben in Ihrem Buch schwere Anschuldigungen gegen offizielle Einrichtungen, gegen Behörden und Regierungen, speziell in Schweden, Ecuador, Großbritannien und den USA. Gab es daraufhin, jetzt nach der Buchveröffentlichung, irgendwelche Dementi, Richtigstellungen oder gar Klagen von Seiten dieser Staaten?
Alle vier Staaten habe die Vorwürfe rundweg abgestritten, haben sich aber geweigert, meine Fragen sachlich zu beantworten, Gegenbeweise zu erbringen oder die gemäß Anti-Folterkonvention zwingenden Untersuchungen einzuleiten. Dabei sind es ja die Staaten selbst, die mich damit beauftragt haben, sie mit allfälligem Fehlverhalten zu konfrontieren, und die sich verpflichtet haben, entsprechende Hinweise sofort unabhängig untersuchen zu lassen. Wenn demokratische Rechtsstaaten sich weigern, einer von ihnen mandatierten Institution Auskunft zu geben, dann stimmt doch was nicht.
Sie haben sich auch an deutsche Regierungsvertreter gewandt. Wie wurden Sie und Ihr Anliegen aufgenommen?
Da muss ich Sie korrigieren. Die deutsche Regierung hat sich an mich gewandt. Eigentlich war ja Deutschland nicht involviert in diesen Fall. Aber das Auswärtige Amt hat die Gelegenheit genutzt, als ich zu einem Besuch in Berlin war, mich um eine Unterredung zu diesem Fall zu bitten. Ich dachte, das Auswärtige Amt macht sich Sorgen um Assange und die Rechtsstaatlichkeit, weil sie meine Pressemitteilungen gelesen hatten, und will hinter den Kulissen Einfluss auf die vier betroffenen Staaten ausüben. Ich war dann überrascht zu erfahren, dass das Auswärtige Amt sich überhaupt nicht mit meinen Interventionen befasst hatte und mich offenbar nur davon abbringen wollte, mich weiter für diesen Fall einzusetzen.
Ein Jahr später hat Ihre Lobbyarbeit, ich nenne es jetzt einmal so, ohne despektierlich sein zu wollen, in Deutschland doch etwas gebracht. Zumindest haben gewichtige Stimmen wie Ex-Außenminister Sigmar Gabriel und der Investigativ-Journalist Günther Wallraff Ihr Anliegen offiziell in der Bundesspressekonferenz unterstützt. Hat das etwas gebracht? Gabriel sollte ja als Chef der Atlantik-Brücke eigentlich einen guten Draht in die USA haben?
Ich denke, im deutschsprachigen Raum haben meine Arbeit und auch die Arbeit dieser Persönlichkeiten zu einem beginnenden Umschwung der öffentlichen Meinung beigetragen. Aber auf Regierungsebene unterliegen all diese Staaten nun einmal den Zwängen der Realpolitik. Deutschland arbeitet natürlich hinter den Kulissen sehr eng mit den amerikanischen Geheimdiensten zusammen, vor allem seit 9/11. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern das sind die nackten Tatsachen. Einiges kommt ja davon auch immer wieder ans Licht: Sei es die NSA-Affäre, als die deutschen Behörden nicht allzu sehr insistierten, um Strafverfahren einzuleiten gegen amerikanische Agenten, die Merkels Handy abgehört haben. Oder bei der Folter des Deutschen El-Masri, als sich die deutsche Regierung weigerte, Auslieferungsgesuche für die CIA-Agenten zu stellen, die ihn gefoltert hatten. Oder die Krypto-AG-Affäre um diese Firma in der Schweiz, über die der CIA und der BND zusammen zwanzig Jahre lang die Hälfte aller Staaten der Welt ausspioniert haben.
Oder jetzt vor kurzem, als bekannt wurde, dass Dänemark den NSA beim Ausspionieren von EU-Politikern, auch aus Deutschland, unterstützt hat.
Genau. Das zeigt auch, dass dies nicht nur ein paar wenige Staaten im Westen betrifft – ganz Westeuropa ist da mit drin. Andere Staaten der Welt sind wiederum in anderen Gruppen, wo sie mit anderen großen Geheimdiensten zusammenarbeiten müssen. Da muss man sich keine Illusionen machen. Es gibt eben wirklich ein Paralleluniversum der Geheimdienste. Es ist ja auch oft nötig, bei globalen Problemen, wie etwa Terrorismus, global zusammenzuarbeiten. Das Problem ist nicht die Zusammenarbeit, sondern dass die Geheimdienste nicht genügend überwacht werden.
Hat man von irgendeiner Seite in den letzten zwei Jahren versucht, Sie einzuschüchtern?
Nicht direkt, also nicht mit physischer Gefahr oder so. Man hat mir aber ganz klar zu verstehen gegeben, dass das, was ich da tue, für meine Karriere nicht förderlich ist. Die Unabhängigkeit meines Mandats hat man grundsätzlich aber immer respektiert. Die Deutschen haben zwar schon versucht, Zweifel zu säen, haben gefragt, ob es da nicht wichtigere Fälle gäbe, und suggeriert, dass mein Einsatz für Assange meiner Glaubwürdigkeit nicht guttun würde. Sie wollten mich offenbar davon abbringen, ohne sich zum Vorwurf machen lassen zu müssen, dass sie die Unabhängigkeit meines Mandats direkt verletzt hätten.
Herr Melzer, wir haben jetzt über den Hintergrund des Falls gesprochen. Kommen wir zum Menschen Julian Assange. Wie müssen wir uns den Alltag von Assange seit jetzt über zwei Jahren im britischen Gefängnis vorstellen?
Als ich ihn dort persönlich vor zwei Jahren besuchte, war er gerade erst angekommen. Neun Tage nach meinem Besuch wurde er bereits in die medizinische Abteilung des Gefängnisses verlegt und seitdem mit wenigen Unterbrechungen fast total isoliert. Er hatte über lange Strecken überhaupt keinen Austausch mit anderen Insassen und darf nur einmal am Tag kurz nach draußen zum Hofgang. Auch die Bestimmungen für Besuche seiner Anwälte waren sehr restriktiv. Das wurde dann mit Covid noch schlimmer. Soweit ich weiß, hat Assange seine Anwälte acht Monate nicht gesehen, und das in einem sehr anspruchsvollen Auslieferungsverfahren. Er muss sich ja mit seinen Anwälten besprechen können. In letzter Zeit ist es aber offenbar wieder zu Lockerungen gekommen, und vor einer Woche durfte ihn auch erstmals seit Oktober seine Partnerin mit den Kindern wieder besuchen.
Und ein wichtiger Punkt, der meist übersehen wird: Assange sitzt ja keine Strafe ab. Er ist eigentlich ein freier Mann. Er befindet sich nur in Auslieferungshaft für die Zeit des Auslieferungsantrages der USA, ein Verfahren, dass noch drei Jahre dauern kann. Normalerweise würde man so eine Haft niemals in einem Hochsicherheitsgefängnis durchführen, sondern mit einer Fußfessel oder allenfalls im bewachten Hausarrest. So hat es Großbritannien damals bei Augusto Pinochet gemacht. Er war 18 Monate lang in einer Villa in Hausarrest und hatte unbeschränkten Zugang zu Besuchen und zur Öffentlichkeit. Aus eher zweifelhaften medizinischen Gründen wurde er dann aus der Auslieferungshaft entlassen.
Das wird mit Assange wohl nicht passieren. Obwohl er ja nach den Jahren der Quasi-Isolation in der ecuadorianischen Botschaft auch schon gesundheitlich sehr angeschlagen war. Sie hatten die Gelegenheit, Assange zusammen mit zwei Spezialärzten, einem Forensiker und einem Psychiater, im Gefängnis zu untersuchen. Ihre Diagnose war Folter. Anhand welcher Kriterien haben Sie das festgemacht?
Die Lebensumstände, denen er jahrelang ausgesetzt war, haben Symptome produziert, die man normalerweise nur bei Opfern psychischer Folter findet. Er war ja in dieser Botschaft eingeschlossen. Es gab das ständige Bedrohungsszenario der Auslieferung an die USA. Selbst das britische Gericht hat ja im Januar eine Auslieferung an die USA als unmenschlich bezeichnet. Assange wurde in die Ecke gedrängt und zunehmend drangsaliert, gedemütigt und diffamiert. Es gab auch noch das schwedische Verfahren, das erst 2019 fallengelassen wurde, das die ganzen Jahre ohne Beweise künstlich am Leben erhalten wurde, um Assanges Glaubwürdigkeit zu untergraben. Außerdem wurde er in der Botschaft 24 Stunden am Tag videoüberwacht, seine vertraulichen Gespräche mit Ärzten und Anwälten wurden gefilmt und aufgenommen. Und das wurde alles an die US-Geheimdienste weitergeleitet. Der von den Ecuadorianern angestellte Sicherheitsdienst in der Botschaft hat heimlich direkt für die Amerikaner gearbeitet. Und das sind ja keine Vermutungen mehr, sondern wurde bereits in den Gerichtsverhandlungen bewiesen. Assange wurde systematisch unter Druck gesetzt. Das ist eine schwere Form der psychischen Misshandlung, die hier von Staaten gemeinsam organisiert wurde. Das kann Menschen in den Selbstmord treiben.
Schockierend ist nicht nur die „Haltung“ von Assange wie ein Tier im britischen Gefängnis, sondern auch die Art der Prozessführung. Er saß in einer Art Käfig oder Glaskasten, ihm wurden Dokumente und Beratungen mit seinen Anwälten zur Prozessvorbereitung verwehrt. Er wurde zusätzlich geschwächt und gedemütigt durch Leibesvisitationen, langen Transport, usw. Und während der Verhandlung wurde kaum Publikum zugelassen. Ist das so üblich in einem westlichen Staat wie Großbritannien?
Natürlich nicht. Das ist ein reiner Schauprozess. Das ist ja das Schockierende. Ich bin auch Professor an einer britischen Universität und kann das einschätzen. Das ist ein Skandal, und darum ist der Fall auch so wichtig, weil hier minimalste Standards eklatant verletzt werden, und die Öffentlichkeit wird faktisch ausgeschlossen, damit das nicht so bekannt wird. Das ist ein Problem auch in reifen westlichen Demokratien: Sobald der Staat selbst Partei ergreift, weil er sich angegriffen fühlt, funktioniert der Rechtsstaat nicht mehr. Das ist sehr gefährlich. Sollte sich dieser Präzedenzfall durchsetzen, kann dies später auf jeden Menschen angewandt werden, von dem sich ein Staat bedroht fühlt.
Zum Vergleich: Bei der Verhandlung gegen Alexej Nawalny in Russland waren um die 100 internationale Journalisten und Beobachter zugelassen. Überhaupt ist im Fall Nawalny die Empörung und Solidarität im Westen groß. Warum nicht bei Assange?
Weil es hier um rein politische Gründe geht. Ich habe ja auch bei Nawalny interveniert. Natürlich werden auch seine Rechte verletzt. Bei Assange ist das allerdings schon seit zehn Jahren der Fall. Die westlichen Staaten fühlen sich bedroht von Wikileaks, nicht weil Wikileaks etwas Illegales tut, sondern weil die Plattform das illegale Verhalten dieser Staaten aufdeckt. Dabei ist das ja eigentlich die Kernfunktion der Presse als vierte Macht im Staat.
Der Werte-Westen bangt um einen russischen Hungerstreikenden – andere Gefangene sind ihm egal
22 April, 11:32
Da stellt sich allerdings die Grundsatzfrage: Ist Assange ein Krimineller oder ein Journalist?
Ein Krimineller ist er mit Sicherheit nicht. Man konnte ihm bisher keine Straftat nachweisen.
Die Anklageliste gegen ihn in den USA ist lang.
Da geht es überall um das Erhalten und Veröffentlichen von geheimen Informationen. Aber das ist doch Aufgabe von Journalisten. Assange hat keine Geheimhaltepflicht. Er ist weder Angestellter noch Vertragspartner dieser Institutionen, von denen diese Dokumente stammen. Er ist ja nicht einmal Bürger der USA. Im Übrigen hat die Enthüllungsplattform Wikileaks Material zu Missverhalten aus vielen Ländern veröffentlicht.
Vor zehn Jahren gab es großes Interesse an den Wikileaks-Enthüllungen. Die Plattform hat damals mit großen Medien wie dem „Spiegel“, dem „Guardian“ oder der „New York Times“ zusammengearbeitet. Die müssten die USA ja jetzt theoretisch auch verklagen. Warum berichten diese Medien jetzt nicht so ausführlich wie damals? Das ist doch auch ihre Geschichte?
Ich vermute, dass es auch hier Abreden hinter den Kulissen gab. Die Amerikaner haben ein Interesse, einen Präzedenzfall zu schaffen, wonach unangenehmer Journalismus kriminalisiert werden kann. Das lässt sich am einfachsten machen mit einer Person, die niemand mag. Wenn man das mit dem „Spiegel“, dem „Guardian“ oder der „New York Times“ versucht, dann gibt es wahrscheinlich einen öffentlichen Aufruhr. Das ist die alte Methode der Hexenprozesse: Eine Person wird diffamiert, und daraufhin kann man in der Öffentlichkeit alles mit ihr machen.
Sie befassen sich in Ihrem Buch besonders akribisch mit den Vergewaltigungsvorwürfen aus Schweden gegen Assange, die nach fast zehn Jahren doch fallengelassen wurden. Warum ist das so wichtig?
Diese Vorwürfe wurden ganz gezielt benutzt, um ihn in der Öffentlichkeit zu diffamieren, damit man ihm nicht zuhört. Bei den Hacking-Vorwürfen in der US-Anklage ging man ähnlich vor. Und da hat ja gerade der Kronzeuge der Anklage zugegeben, gelogen und die Anklage manipuliert zu haben.
Kann das Einfluss haben auf den weiteren Verlauf?
Es ist ein weiteres Puzzleteil, das beweist, wie hier vorgegangen wird. Der Zeuge hat selbst zugegeben, dass er Falschangaben gemacht hat im Austausch für Immunität bei einer möglichen Strafverfolgung aufgrund seiner eigenen Straftaten. Das ist also ein gekaufter Zeuge.
26 Juni, 22:36